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Die geringe Teilnahme von Menschen mit niedriger Bildung an sozialwissenschaftlichen Umfragen ist sowohl für die Erhebungsinstitute als auch die Forschenden ein schwierig zu lösendes Problem. Das GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften hat einen Workshop veranstaltet, in dem institutionsübergreifend nach den Ursachen für diesen Bildungsbias gesucht sowie Lösungsstrategien überlegt und diskutiert wurden. Die Ergebnisse sollen in Form eines Artikels gesichert und so auch für Nichtteilnehmende der Veranstaltung verfügbar gemacht werden.
Zu dem Workshop mit dem Titel „Bildungsbias in (selbstadministrierten) Quer- und Längsschnittbefragungen in Deutschland“ kamen rund 30 Sozialwissenschaftlerinnen und –wissenschaftler vom 9. bis 10. November 2023 in Mannheim zusammen und brachten ihre Erfahrungen aus zahlreichen großen Längs- und Querschnittsstudien in Deutschland ein. Dazu zählten u.a. die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS), das Bundesbank Online Panel – Haushalte (BOP-HH), der Deutsche Alterssurvey (DEAS), das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), der European Social Survey (ESS), FReDA, die German Emigration and Remigration Panel Study (GERPS), das German Internet Panel (GIP), die German Longitudinal Election Study (GLES), die National Educational Panel Study (NEPS), das Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung (PASS), das Programme for the International Assessment of Adult Competencies (PIAAC), die Studie Gesundheit in Deutschland aktuell (GEDA) des Robert-Koch-Instituts, der Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) sowie das Sozio-oekonomische Panel (SOEP).
In einem ersten Schritt wurde versucht, ein gemeinsames Verständnis vom Bildungsbias zu entwickeln. Dabei zeigte sich, dass der Anteil der niedriggebildeten Menschen an der Bevölkerung schwankt – je nach Definition und Kriterien, die verwendet werden, um das Bildungsniveau zu messen. Die Einteilung kann beispielsweise nach ISCED oder nach höchstem Schulabschluss erfolgen. Da als Referenzwert häufig der Mikrozensus des Statistischen Bundesamts herangezogen wird, ergeben sich entsprechend unterschiedliche Abweichungen. Doch gleichgültig, wie hoch genau der Bias aufgrund der verwendeten Kriterien ausfällt: Dass Menschen mit niedrigem Bildungsniveau in Stichproben unterrepräsentiert und die Daten demzufolge verzerrt sind, steht für die Workshop-Teilnehmenden fest. Und dieser Bias hat sich in der letzten Dekade sogar eher noch verstärkt, so die Beobachtung.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Hier eine Auflistung möglicher Erklärungen, die jedoch sicherlich noch erweitert werden kann.
Bereits das Anschreiben einer Rekrutierungswelle erreicht nur einen Teil der ausgewählten Adressatinnen und Adressaten. Teilweise sind Briefe nicht zustellbar, teilweise werfen die Menschen den Brief weg. Umso wichtiger erscheint es, dass die Empfängerinnen und Empfänger, die das Anschreiben tatsächlich lesen, im Text richtig angesprochen und zur Teilnahme bewegt werden. Sprach- und Verständnisschwierigkeiten könnten insbesondere Niedriggebildete schon bei der Rekrutierung von einer Teilnahme an der Befragung abhalten. Insgesamt ist die Lesekompetenz in dieser Bevölkerungsgruppe tendenziell eher rückläufig. Darüber hinaus können die Formulierungen der Fragen bei Befragungen komplex sein. Teilweise werden Fachbegriffe verwendet oder spezifisches Wissen abgefragt. Einige Themen berühren das kulturelle Verständnis der Befragten. Darüber hinaus kann das vollständige Durcharbeiten eines Fragebogens ein gewisses Maß an Disziplin und Geduld erfordern – eine lange Befragungsdauer schreckt insbesondere Menschen mit niedriger Bildung wohl eher ab.
Incentives helfen zwar bei der Rekrutierung, sie haben jedoch im Hinblick auf die Teilnahmebereitschaft von Menschen mit niedriger Bildung nur einen sehr geringen Effekt. Selbst ein sehr hohes Incentive führt häufig lediglich dazu, dass rund 8 bis 9 Prozent mehr Menschen mit höherer Bildung teilnehmen. Die Teilnahme von Niedriggebildeten erhöht sich lediglich um rund 1 Prozentpunkt.
Menschen mit niedriger Bildung werden am ehesten durch den persönlichen Kontakt mit einem/r Interviewer*in bzw. in einem face-to-face-Interview für die Teilnahme an einer Umfrage gewonnen. Haben sie die Wahl zwischen einem Papierfragebogen und einer Online-Befragung, präferieren viele Niedriggebildete die Papier-Variante. Möglicherweise haben Menschen mit niedrigem Bildungsstand weniger Zugang zu Computern und zum Internet, vielleicht fühlen sie sich im Umgang mit Online-Tools unsicher. Viele Studien setzen jedoch in erster Linie auf Online-Befragungen.
Menschen mit niedrigem Bildungsniveau könnten Vorbehalte gegenüber Behörden und Institutionen haben, vielleicht weil sie Bedenken hinsichtlich der Verwendung ihrer Daten und des Datenschutzes haben. Eventuell fehlen ihnen ausreichende Informationen über seriöse Erhebungsinstitute und Forschungsinstitutionen.
Niedriggebildete arbeiten eventuell häufiger in Berufen, die weniger zeitliche Flexibilität oder längere Arbeitszeiten erfordern. Dadurch haben sie vielleicht weniger Zeit sich an Umfragen zu beteiligen.
Menschen mit höherem Bildungsniveau sind eventuell eher bereit an Umfragen teilzunehmen, weil sie ein größeres Verständnis für die Bedeutung von Umfragen und den Wert von Forschung haben. Vielleicht interessieren sie sich auch stärker für gesellschaftliche Fragen. Niedriggebildete dagegen könnten sich weniger für sozialwissenschaftliche Studien interessieren, weil sie den Nutzen dieser Umfragen nicht erkennen. Der Versuch, den Unterhaltungswert eines Fragebogens zu erhöhen, also den Spaß an der Beantwortung der Fragen zu steigern, hat bislang nichts gebracht. Die „Gamefication“ insbesondere bei Online-Befragungen hat nicht zu einer höheren Teilnahme von Menschen mit niedriger Bildung geführt.
Die gezielte Einbindung von Menschen mit niedriger Bildung in Stichproben könnte durch mehrere Strategien erfolgen. Es geht vor allem darum, mögliche Barrieren abzubauen und die Teilnahme zu erleichtern.
Um zu vermeiden, dass der Brief mit dem Anschreiben ungelesen weggeworfen wird, könnte bereits der Briefumschlag so gestaltet werden, dass er auffällt sowie Neugier und Interesse weckt. Das Anschreiben selbst sollte in einfacher Sprache formuliert sein. Das bedeutet, keine Fachbegriffe zu verwenden, auf komplizierte Satzstrukturen zu verzichten und den Text kurz und übersichtlich zu halten. Inhaltlich sollte die Bedeutung der individuellen Teilnahme möglichst konkret und nachvollziehbar hervorgehoben werden, der Verwendungszweck der erhobenen Daten sollte für die Adressatinnen und Adressaten klar sein.
Ein kleines Prepaid-Incentive ist sinnvoll, um die Teilnahmebereitschaft insgesamt zu erhöhen. Das Incentive allein wird jedoch den Bildungsbias nicht reduzieren.
Ideal für eine verstärkte Teilnahme von Niedriggebildeten wären vermutlich persönliche Interviews. Als kostengünstige Alternative sollte die Teilnahme per Papierfragebogen möglich sein. Für die Reduzierung des Bildungsbias wäre es hilfreich, wenn die Befragung kurz gehalten wäre und nur wenig Zeit erfordern würde. Die Fragen und Erklärungen sollten in einfacher Sprache verfasst sein. Ein weiterer Anreiz für eine Teilnahme könnte es sein, relevante Themen dieser Personengruppe anzusprechen, um ihr Interesse zu wecken.
Gespräche mit Fokusgruppen sind vermutlich sinnvoll, um nachvollziehen zu können, woran die Teilnahme von Menschen mit niedriger Bildung häufig scheitert.
Die genauen Gründe für die Nichtteilnahme dieser Bevölkerungsgruppe sind immer noch weitgehend unbekannt. Feststeht, dass es nicht die eine Maßnahme gegen den Bildungsbias gibt, sondern dass an mehreren Stellschrauben gleichzeitig gearbeitet werden muss. Hierzu existieren zwar bereits Ideen, doch die einzelnen Strategien müssen noch evaluiert werden, derzeit fehlt es an Evidenz und Publikationen. Die Teilnehmenden des Workshops sind sich darin einig, dass hier noch mehr Grundlagenforschung notwendig ist. Ein erster Beitrag in diesem Zusammenhang soll ein wissenschaftlicher Aufsatz über diesen Workshop sein.
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